Tao Te King
善人之寶,
不善人之所保。
美言可以市尊,
美行可以加人。
人之不善,何棄之有?
故立天子,置三公,
雖有拱璧以先駟馬,
不如坐進此道。
古之所以貴此道者何?
不曰:求以得,有罪以免邪?
故為天下貴。
Der Sinn ist aller Dinge Heiligtum.
Der Guten Schatz,
Der Nichtguten Zuflucht.
Schöne Worte können Ehre erkaufen,
Edle Taten können Menschen erhöhen.
Doch selbst wer nicht gut ist – warum sollte man ihn verstoßen?
Darum: Wenn der Himmelssohn eingesetzt wird und die drei Fürsten ernannt,
Mag man auch große Jadeplatten darbringen vor Viergespannen –
Besser ist es, still zu sitzen und diesen Sinn darzubringen.
Warum schätzten die Alten diesen Sinn so hoch?
Sagten sie nicht: Durch ihn findet der Suchende, durch ihn wird der Schuldige befreit?
Darum ist er der Schatz der Welt.
Das Dao ist kein moralischer Richter, sondern ein Zufluchtsort für alle Menschen ohne Ausnahme. Lao Tzu lehrt hier eine radikale Form der Inklusion: Das Dao dient nicht nur den Tugendhaften als Schatz, sondern auch den Fehlerhaften als Schutz. Diese Perspektive widerspricht der menschlichen Neigung, zwischen Würdigen und Unwürdigen zu unterscheiden. In der deutschen philosophischen Tradition erinnert dies an Schopenhauers Mitleidsethik – das Erkennen des gemeinsamen Leidens aller Wesen. Das Dao urteilt nicht nach äußeren Kategorien von Gut und Böse, sondern umfasst das gesamte Spektrum menschlicher Existenz. Wenn ein Mensch strauchelt, stößt ihn das Dao nicht aus, sondern bietet ihm Halt. Wie ein Wald, der sowohl gerade als auch krumme Bäume beherbergt, oder wie die Schwerkraft, die auf alle Körper gleichermaßen wirkt – so ist das Dao eine grundlegende Wirklichkeit, die niemanden ausschließt.
Lao Tzu stellt die höfische Praxis seiner Zeit in Frage: die Darbringung kostbarer Jade und prächtiger Pferdegespanne. Diese Kritik am äußeren Prunk hat besondere Relevanz in einer Gesellschaft, die Erfolg oft an materiellen Symbolen misst. Das Dao anzubieten bedeutet, innere Ausrichtung über äußere Demonstration zu stellen – eine Haltung, die der deutschen Tradition der Innerlichkeit und des philosophischen Idealismus entspricht. Während schöne Worte und edle Taten durchaus ihren Platz haben und soziale Anerkennung bringen können, weist Lao Tzu auf etwas Tieferes hin: Die stille Kultivierung des Dao übertrifft jeden äußeren Glanz. Dies ist keine Ablehnung von Schönheit oder Würde, sondern eine Hierarchie der Werte. Wie Meister Eckhart lehrte, dass Gott mehr im Innersten als im Äußersten zu finden sei, so zeigt Lao Tzu, dass wahre Größe in der Verbindung mit dem Dao liegt, nicht in zeremonieller Pracht.
Die rhetorische Frage am Ende des Kapitels offenbart die transformative Kraft des Dao: „Durch es findet der Suchende, durch es wird der Schuldige befreit." Dies ist keine billige Absolution, sondern ein Hinweis auf einen tieferen Prozess der Wandlung. Das Dao bietet einen Weg zur Selbstkorrektur, der nicht auf Bestrafung, sondern auf Rückkehr zur natürlichen Ordnung basiert. In der deutschen Rechtstradition kennen wir das Prinzip der Resozialisierung – die Idee, dass auch Straffällige wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Das Dao geht noch weiter: Es sieht in jedem Menschen das Potenzial zur Rückkehr zum Ursprung. Wer sich dem Dao öffnet, findet nicht nur Vergebung, sondern auch Orientierung. Wie ein Kompass, der immer nach Norden zeigt, weist das Dao den Weg zurück zur Harmonie – unabhängig davon, wie weit man sich verirrt hat.
Das Problem: Ein langjähriger Mitarbeiter hat einen schwerwiegenden Fehler gemacht, der dem Unternehmen geschadet hat. Die Geschäftsführung steht unter Druck, ein Exempel zu statuieren. Kollegen fordern eine harte Sanktion, manche sogar die Kündigung. Die Atmosphäre ist vergiftet durch Schuldzuweisungen. Der Mitarbeiter selbst ist verzweifelt und fühlt sich als Versager, der keine zweite Chance verdient.
Die taoistische Lösung: Statt sofortiger Verurteilung praktiziert die Führungskraft das Dao-Prinzip: „Warum sollte man ihn verstoßen?" Sie erkennt, dass der Mitarbeiter nicht sein Fehler ist, sondern ein Mensch, der einen Fehler gemacht hat. In einem ruhigen Gespräch wird der Schaden analysiert, nicht um zu beschämen, sondern um zu verstehen. Gemeinsam werden Wiedergutmachung und Lernprozesse entwickelt. Diese Haltung transformiert die Situation: Der Mitarbeiter findet durch das Dao der Vergebung neue Motivation, das Team lernt eine Kultur der Fehlertoleranz kennen, und das Unternehmen gewinnt an menschlicher Reife. Wahre Führung zeigt sich nicht in der Härte der Bestrafung, sondern in der Weisheit der Integration.
Das Problem: Eine Jugendliche hat wiederholt gegen Familienregeln verstoßen, lügt, schwänzt die Schule und experimentiert mit riskantem Verhalten. Die Eltern schwanken zwischen Wut und Verzweiflung. Sie haben bereits Strafen verhängt, Privilegien entzogen und endlose Diskussionen geführt – ohne Erfolg. Die Beziehung ist zerrüttet, das Vertrauen zerstört. Die Eltern fragen sich, ob sie versagt haben und ob ihre Tochter überhaupt noch erreichbar ist.
Die taoistische Lösung: Die Eltern erinnern sich an das Dao-Prinzip: Auch die Nichtguten verdienen Zuflucht. Sie hören auf, ihre Tochter als „Problem" zu definieren, und beginnen, sie als verlorenen Menschen zu sehen, der den Weg sucht. Statt weiterer Konfrontation schaffen sie einen sicheren Raum ohne Vorwürfe. Sie sagen: „Egal was passiert, du gehörst hierher." Diese bedingungslose Akzeptanz – nicht des Verhaltens, aber der Person – öffnet langsam eine Tür. Das Mädchen spürt, dass es nicht verstoßen wird, und beginnt vorsichtig, sich zu öffnen. Das Dao wirkt hier als Refugium, das Transformation ermöglicht, wo Zwang versagt hat.
Das Problem: Ein Mensch hat in der Vergangenheit eine Entscheidung getroffen, die anderen geschadet hat – vielleicht eine Untreue, ein beruflicher Verrat oder eine fahrlässige Handlung. Obwohl Jahre vergangen sind, wird er von Schuldgefühlen geplagt. Er kann sich selbst nicht vergeben und glaubt, keine zweite Chance verdient zu haben. Diese innere Last lähmt ihn, verhindert neue Beziehungen und berufliche Entwicklung. Er definiert sich nur noch über seinen Fehler.
Die taoistische Lösung: Das Dao lehrt: „Der Schuldige wird befreit." Dies bedeutet nicht, die Verantwortung zu leugnen, sondern sich dem Dao als Transformationsprozess zu öffnen. Der Mensch beginnt eine Praxis der Selbstakzeptanz: Er erkennt an, was geschehen ist, leistet wo möglich Wiedergutmachung, und versteht dann, dass endloses Selbstquälen keine Tugend ist. Wie die Natur, die nach einem Brand neues Leben hervorbringt, erlaubt das Dao einen Neuanfang. Durch Meditation, ehrliche Reflexion und konkrete Schritte der Besserung findet er zurück zum Fluss des Lebens. Das Dao wird sein Refugium – nicht als Flucht vor Verantwortung, sondern als Weg zur Erneuerung.