Dao De Jing
高者抑之,下者舉之;
有餘者損之,不足者補之。
天之道,損有餘而補不足。
人之道則不然,損不足以奉有餘。
孰能有餘以奉天下?唯有道者。
是以聖人為而不恃,功成而不處,其不欲見賢。
Des Himmels Sinn, ist er nicht wie das Spannen eines Bogens?
Das Hohe wird gesenkt, das Niedrige wird erhoben;
Was im Überfluss ist, wird vermindert, was mangelt, wird ergänzt.
Des Himmels Sinn ist es, den Überfluss zu vermindern und den Mangel zu ergänzen.
Der Menschen Weise ist nicht so: Sie nehmen vom Mangelnden, um dem Überfließenden zu dienen.
Wer kann seinen Überfluss darbieten, um der Welt zu dienen? Nur wer das Dao besitzt.
Darum handelt der Berufene, ohne sich darauf zu verlassen, vollendet das Werk, ohne dabei zu verweilen, und wünscht nicht, seine Würde zu zeigen.
Der Himmel wirkt wie ein gespannter Bogen, der automatisch Extreme ausgleicht. Dieses Bild beschreibt ein fundamentales Naturgesetz: Systeme streben von selbst nach Gleichgewicht. Wenn Wasser zu hoch steigt, fließt es ab; wenn Druck zu groß wird, entlädt er sich. Die Natur kennt keine dauerhafte Akkumulation an einem Pol – sie verteilt Energie, Ressourcen und Möglichkeiten kontinuierlich um. Dieser Prozess geschieht ohne moralische Absicht, ohne Planung, einfach als inhärente Eigenschaft des Dao. Lao Tzu zeigt uns: Nachhaltigkeit entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Respekt vor diesem selbstregulierenden Prinzip. In Ökosystemen sehen wir dies deutlich: Raubtiere regulieren Beutetiere, Jahreszeiten gleichen Wachstum und Ruhe aus. Wenn der Mensch dieses Prinzip ignoriert und künstliche Extreme schafft – sei es in Wirtschaft, Ökologie oder Gesellschaft – erzeugt er Instabilität, die sich letztlich gewaltsam korrigiert.
Hier liegt Lao Tzus schärfste Gesellschaftskritik: Die menschliche Zivilisation invertiert das natürliche Prinzip. Während die Natur ausgleicht, konzentrieren menschliche Systeme Ressourcen bei jenen, die bereits im Überfluss haben. Steuersysteme begünstigen oft Vermögende, Bildungschancen reproduzieren Privilegien, Macht akkumuliert bei Mächtigen. Diese Umkehrung ist nicht böswillig, sondern strukturell: Institutionen dienen häufig denen, die sie kontrollieren. Lao Tzu diagnostiziert damit ein zeitloses Problem, das von Hegels Herr-Knecht-Dialektik bis zu modernen Ungleichheitsdebatten reicht. Die Frage ist nicht moralisch, sondern systemisch: Warum erschaffen Menschen Strukturen, die gegen das natürliche Gleichgewicht arbeiten? Die Antwort liegt im Ego – im Wunsch, Sicherheit durch Akkumulation zu erlangen. Doch diese Strategie erzeugt genau die Instabilität, die sie vermeiden will. Wahre Stabilität entsteht durch Zirkulation, nicht durch Hortung.
Der Weise handelt im Einklang mit dem Himmelsprinzip: Er gibt aus seinem Überfluss, ohne Anerkennung zu erwarten. Dies ist keine Selbstverleugnung, sondern Freiheit von der Tyrannei des Egos. Wer nach Ruhm für gute Taten strebt, macht sich abhängig von äußerer Bestätigung – das Handeln wird transaktional statt spontan. Der Weise vollendet sein Werk und geht weiter, wie ein Fluss, der fließt, ohne Denkmäler seiner Route zu errichten. Diese Haltung entspricht dem deutschen Begriff der „inneren Freiheit" – unabhängig von Lob oder Tadel zu sein. Schopenhauer erkannte ähnlich, dass wahres Handeln aus Mitgefühl entspringt, nicht aus Kalkül. In der Praxis bedeutet dies: Wir tun das Richtige, weil es dem natürlichen Fluss entspricht, nicht weil wir dafür belohnt werden wollen. Paradoxerweise entsteht gerade dadurch authentische Wirkung – Menschen vertrauen jenen, die nicht nach Anerkennung jagen.
Das Problem: Ein deutscher Mittelständler hat durch Innovation großen Wohlstand erlangt. Er spendet gelegentlich, aber hauptsächlich investiert er in weiteres Wachstum. Seine Mitarbeiter in der Produktion verdienen Mindestlohn, während er Gewinne maximiert. Er folgt dem „menschlichen Weg" – nimmt vom Mangelnden (niedrige Löhne), um dem Überfließenden (Kapitalrendite) zu dienen. Langfristig entsteht Unmut, Fluktuation steigt, die Unternehmenskultur leidet.
Die taoistische Lösung: Er erkennt: Sein Überfluss ist nicht nur sein Verdienst, sondern Ergebnis eines Systems, das ihn begünstigt. Nach dem Himmelsprinzip teilt er bewusst: faire Löhne, Gewinnbeteiligung, Investitionen in Weiterbildung. Er tut dies nicht für PR, sondern weil es dem natürlichen Ausgleich entspricht. Paradoxerweise steigt dadurch Loyalität, Produktivität und Innovation – das Unternehmen wird stabiler. Er handelt wie der Weise: gibt aus Überfluss, ohne auf dem Verdienst zu bestehen, und schafft dadurch nachhaltigen Erfolg statt kurzfristige Akkumulation.
Das Problem: Eine Abteilungsleiterin in einem deutschen Konzern hat ein wichtiges Projekt erfolgreich abgeschlossen. Ihr Ego drängt sie, in Meetings ihre Leistung hervorzuheben, sich vor dem Vorstand zu profilieren. Sie beginnt, Erfolge für sich zu reklamieren, die eigentlich Teamarbeit waren. Das Team fühlt sich übergangen, Vertrauen schwindet. Ihre Selbstdarstellung untergräbt genau die Kooperation, die den Erfolg ermöglichte.
Die taoistische Lösung: Sie erinnert sich an Kapitel 77: „Der Weise vollendet das Werk, ohne dabei zu verweilen." Sie präsentiert Ergebnisse, nennt aber konsequent die Beiträge anderer. In Meetings hebt sie Teamleistungen hervor, nicht ihre eigene Rolle. Diese Zurückhaltung ist keine Schwäche – sie zeigt Stärke durch Nicht-Anhaften. Paradoxerweise wächst dadurch ihr Ansehen: Vorgesetzte erkennen wahre Führungsqualität, das Team arbeitet motivierter. Sie hat gelernt, dass echte Autorität nicht durch Selbstpromotion entsteht, sondern durch dienende Kompetenz ohne Eitelkeit.
Das Problem: Ein deutscher Ingenieur arbeitet 60 Stunden pro Woche, vernachlässigt Familie, Gesundheit und Hobbys. Beruflich hat er „Überfluss" an Engagement, privat herrscht „Mangel" an Präsenz. Seine Lebensbereiche sind extrem unausgeglichen. Er folgt dem menschlichen Muster: nimmt von den schwachen Bereichen (Familie, Gesundheit), um den starken (Karriere) noch mehr zu geben. Burnout und Beziehungskrisen drohen.
Die taoistische Lösung: Er wendet das Bogenprinzip auf sein Leben an: Was zu hoch ist (Arbeitszeit), wird gesenkt; was zu niedrig ist (Feierabend, Familie), wird erhoben. Er reduziert bewusst Arbeitsstunden, investiert Zeit in vernachlässigte Bereiche. Dies ist kein Verlust, sondern Umverteilung nach natürlichem Prinzip. Überraschenderweise steigt seine Arbeitseffektivität – ausgeruhter ist er produktiver. Seine Beziehungen vertiefen sich, Gesundheit stabilisiert sich. Er hat verstanden: Nachhaltigkeit entsteht durch Ausgleich, nicht durch einseitige Maximierung. Das Leben selbst wird zum gespannten Bogen, der alle Bereiche harmonisch hält.