Dao De Jing
報怨以德,安可以為善?
是以聖人執左契,而不責於人。
有德司契,無德司徹。
天道無親,常與善人。
Versöhnt man großen Groll, so bleibt gewiss ein Rest von Groll zurück.
Wie kann man Groll mit Güte vergelten und dies für gut befinden?
Darum hält der Berufene die linke Hälfte des Vertrags,
doch fordert er nicht von den Menschen.
Wer Kraft hat, hütet den Vertrag;
wer keine Kraft hat, treibt die Schuld ein.
Des Himmels Weg kennt keine Günstlinge,
doch steht er stets dem Guten bei.
Selbst die aufrichtigste Versöhnung löscht nicht alle Spuren des Konflikts aus. Laozi erkennt mit nüchterner Klarheit, dass große Verletzungen Narben hinterlassen, die nicht vollständig heilen. Diese Einsicht widerspricht der naiven Vorstellung, dass Vergebung alle Wunden schließt. Vielmehr zeigt sie die Grenzen menschlicher Bemühungen auf. Wenn wir einen schweren Streit beilegen, mag die äußere Form wiederhergestellt sein, doch im Inneren bleiben Reste von Misstrauen, Vorsicht oder Traurigkeit. Dies ist keine moralische Schwäche, sondern eine natürliche Folge tiefer Erschütterungen. Die deutsche philosophische Tradition, von Hegel bis Adorno, hat stets die dialektische Spannung zwischen Versöhnung und bleibender Differenz betont. Laozi lehrt uns, diese Unvollkommenheit anzuerkennen, statt sie zu verdrängen. Ein Beispiel: Nach einem Betrug im Geschäftsleben mag man den Vertrag erneuern, doch die ursprüngliche Leichtigkeit kehrt nicht zurück. Oder in der Familie: Geschwister versöhnen sich nach Jahren des Schweigens, aber die verlorene Zeit bleibt unwiederbringlich.
Der Weise hält die linke Vertragshälfte – er kennt sein Recht, doch er pocht nicht darauf. Diese Haltung verkörpert höchste Souveränität: Macht zu besitzen, ohne sie auszuüben. In der deutschen Rechtstradition würde man von der Differenz zwischen Recht haben und Recht bekommen sprechen. Laozi geht noch weiter: Er zeigt, dass wahre Tugend darin besteht, auf das Einfordern zu verzichten, selbst wenn man im Recht ist. Dies ist keine Schwäche, sondern die Überwindung des Ego, das ständig Anerkennung und Genugtuung sucht. Der Weise vertraut darauf, dass die natürliche Ordnung sich selbst reguliert. Er muss nicht mahnen, klagen oder strafen. Diese Gelassenheit entspringt innerer Fülle, nicht äußerem Zwang. Denken Sie an einen Handwerksmeister, der seine Arbeit perfekt ausführt, ohne ständig Lob zu verlangen. Oder an einen Vorgesetzten, der Fehler bemerkt, aber Raum für Selbstkorrektur lässt, statt sofort zu sanktionieren. Diese Haltung schafft Vertrauen und ermöglicht echte Entwicklung.
Der Weg des Himmels kennt keine persönlichen Vorlieben, doch er begünstigt den Guten – ein scheinbares Paradox, das tiefe Wahrheit birgt. Laozi meint nicht, dass der Himmel willkürlich belohnt, sondern dass natürliche Konsequenzen aus dem Handeln folgen. Wer im Einklang mit dem Dao lebt, erfährt dessen Unterstützung nicht als Gunst, sondern als logische Folge. Dies erinnert an Kants kategorischen Imperativ: Das moralische Gesetz wirkt universal, nicht partikular. Der Unterschied liegt darin, dass Laozi nicht von Pflicht spricht, sondern von natürlicher Harmonie. Wer gibt, ohne zu fordern, schafft Beziehungen, die tragen. Wer nimmt und eintreibt, erzeugt Widerstand und Isolation. Diese Dynamik zeigt sich überall: Ein Unternehmen, das nur Profit maximiert, verliert langfristig das Vertrauen der Kunden. Ein Staat, der nur Steuern eintreibt, ohne Gemeinwohl zu fördern, untergräbt seine Legitimität. Die Natur selbst demonstriert diese Gerechtigkeit: Der Baum, der zu schnell wächst, bricht im Sturm; der geduldige überlebt.
Das Problem: Nach einem heftigen Streit zwischen zwei Kollegen über Zuständigkeiten wird eine Mediation durchgeführt. Beide einigen sich formal auf eine Lösung und geben sich die Hand. Doch in den folgenden Wochen bleibt die Atmosphäre angespannt. Kleine Bemerkungen, vermiedener Blickkontakt und zögerliche Zusammenarbeit zeigen: Der Groll ist nicht verschwunden, nur überdeckt. Die Führungskraft ist frustriert, weil die „Versöhnung" nicht die erhoffte Harmonie gebracht hat.
Die Taoistische Lösung: Akzeptieren Sie, dass vollständige Harmonie unrealistisch ist. Statt auf perfekte Versöhnung zu bestehen, schaffen Sie Strukturen, die produktive Zusammenarbeit trotz Restspannungen ermöglichen. Klare Zuständigkeiten, respektvolle Kommunikationsregeln und Zeit zum Heilen sind wichtiger als erzwungene Freundlichkeit. Der Weise erkennt: Manche Wunden brauchen Jahre, um zu verblassen. Wichtig ist nicht die sofortige Harmonie, sondern der Verzicht auf weitere Eskalation. Geben Sie beiden Raum, ohne Forderungen zu stellen, und vertrauen Sie darauf, dass sich die Beziehung natürlich stabilisiert, wenn niemand auf seinem Recht beharrt.
Das Problem: Ein Lieferant hat eine wichtige Frist versäumt, was Ihrem Unternehmen Schaden zugefügt hat. Rechtlich könnten Sie Schadenersatz fordern und den Vertrag kündigen. Der Lieferant entschuldigt sich aufrichtig und bietet Wiedergutmachung an. Sie stehen vor der Entscheidung: Sollen Sie auf Ihrem Recht bestehen oder Großzügigkeit zeigen? Die deutsche Gründlichkeit verlangt Konsequenz, doch Sie spüren, dass hartes Durchgreifen die langjährige Beziehung zerstören würde.
Die Taoistische Lösung: Halten Sie die linke Vertragshälfte – kennen Sie Ihr Recht, aber fordern Sie es nicht ein. Dokumentieren Sie den Vorfall präzise (deutsche Sorgfalt), doch verzichten Sie auf Sanktionen. Kommunizieren Sie klar, dass Sie die Situation registriert haben, aber Vertrauen in die Zukunft setzen. Diese Haltung zeigt Stärke, nicht Schwäche. Sie schaffen Raum für echte Wiedergutmachung statt erzwungener Kompensation. Langfristig wird diese Großzügigkeit mehr Loyalität erzeugen als jede Vertragsstrafe. Der Himmel begünstigt den Guten: Wer gibt, ohne zu fordern, baut tragfähige Beziehungen auf.
Das Problem: Nach dem Tod eines Elternteils entbrennt Streit über das Erbe. Alte Verletzungen aus der Kindheit – wer wurde bevorzugt, wer vernachlässigt – brechen wieder auf. Eine juristische Einigung wird erzielt, doch die Geschwister sprechen kaum noch miteinander. Jeder fühlt sich im Recht, jeder trägt Groll. Die Familie ist zerrissen, und keine Seite will nachgeben, aus Angst, das eigene Recht zu verlieren.
Die Taoistische Lösung: Erkennen Sie, dass keine Erbschaftsregelung die alten Wunden heilen wird. Statt auf Gerechtigkeit zu pochen, lassen Sie los. Dies bedeutet nicht, auf Ihr Erbe zu verzichten, sondern auf die emotionale Forderung nach Anerkennung vergangenen Leids. Halten Sie Ihre Position, ohne andere anzuklagen. Akzeptieren Sie, dass Restgroll bleiben wird – das ist menschlich. Schaffen Sie kleine Gesten der Verbindung, ohne Erwartungen: ein Brief, ein Anruf zum Geburtstag. Der Himmel kennt keine Günstlinge, aber er unterstützt den, der Frieden sucht, ohne ihn zu erzwingen. Mit der Zeit kann sich eine neue, bescheidenere Form der Beziehung entwickeln.